Gründungsfaktoren
und -bedingungen
Der Übergang von der Hand- zur
Maschinenproduktion sowie die erstmals dauerhaft und dann immer
intensiver werdende Verbindung von wissenschaftlicher Theorie und
werktätiger Praxis - das waren die grundlegend neuen
Entwicklungsprozesse, die dem 19. Jahrhundert ihren Stempel
aufdrückten.
Nie zuvor vollzogen sich so rasch umwälzende Veränderungen auf
allen Gebieten des geistigen und praktischen Lebens.
In großem Umfang wurden die Resultate der ,,stillen
Studierstube" immer mehr Menschen zugänglich gemacht und in
den Dienst der Allgemeinheit gestellt. Für nachhaltiges
öffentliches Aufsehen sorgten insbesondere spektakuläre, das
Berufs- und Alltagsleben völlig umkrempelnde Neuerungen, wie z.B.
das Aufkommen des Eisenbahnverkehrs (in Magdeburg ab 1839) sowie die
Einführung der Gasbeleuchtung und der elektrischen Telegraphie (in
Magdeburg Anfang der 50er Jahre). Das bekannt werden von immer mehr
Entdeckungen und Erfindungen führte dazu, dass sich eine sprunghaft
wachsende Zahl von Menschen für den zuvor ein Schattendasein
fristenden Bereich von Wissenschaft und Technik zu interessieren
begann.
Zu erfahren, wie in diesem geheimnisvollen Bereich gearbeitet wird,
wie man zu Entdeckungen und Erfindungen kommt, welche neuen
ungeahnten Möglichkeiten sich durch die breite praktische Anwendung
wissenschaftlich-technischer Forschungsergebnisse eröffnen, weckte
das Interesse von Menschen aus den verschiedensten Volksschichten an
populär dargestellten Sachinformationen und Fakten.
Mehr noch, man wollte frühzeitig und erschöpfend wissen, wie man
mit den im Alltagsleben im allgemeinen und im Berufsleben im
besonderen umzugehen hat.
Es ist nicht übertrieben festzustellen, dass sich im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts erstmals ein vor allem ökonomisch,
wissenschaftlich und kulturell motiviertes Bedürfnis entwickelte,
sich umfassend und vielseitig über neue wissenschaftliche
Erkenntnisse und ihren praktischen Nutzen zu informieren und das
weit über einen relativ kleinen Kreis von Professionellen hinaus.
Dem weitgehend gerecht zu werden, dazu bedurfte es der Suche und
Schaffung von Möglichkeiten und Wegen zur öffentlichen Vermittlung
wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Der Anfang wurde dabei - in institutioneller Hinsicht - in Berlin,
der deutschen Reichshauptstadt, gemacht.
Hier konstituierte sich am 03. März 1888 eine private
Aktiengesellschaft, deren erklärter Zweck ,,die Verbreitung der
Freude an der Naturerkenntnis" war. Mit dem für damalige
Verhältnisse hohen Startkapital von 250.000 Mark konnte es sich die
neue Gesellschaft leisten, ein eigenes Vereinsgebäude zu errichten.
Bereits ein Jahr später, am 1. Juli 1889, wurde der beeindruckende
Neubau eingeweiht und der neugierig gewordenen Öffentlichkeit
zugänglich gemacht. Ms Hauptattraktionen erwiesen sich alsbald die
astronomische, die physikalische und die mikroskopische Abteilung
sowie das Wissenschaftliche Theater.
Die ungewöhnlich reichhaltig und großzügig ausgestattete
astronomische Abteilung verkörperte die erste Volkssternwarte der
WeIt. An ihr arbeitete u.a. Friedrich Simon Archenhold, der dann
1896 in Treptow die zweite Berliner Volkssternwarte gründete. Die
physikalisch-mikroskopischen Abteilungen warteten mit einer
revolutionären didaktischen Neuerung auf In ihren Räumen konnte
man nicht nur sehenswerte Apparate und Instrumente aus Wissenschaft
und Technik bestaunen, sondern der interessierte Besucher wurde
sogar direkt aufgefordert, sich auch mit deren Funktionsweise
vertraut zu machen und an Hand beigefügter Anweisungen selbst zu
experimentieren. Prominente Wissenschaftler wie der
Nobelpreisträger Max von Laue und der Erfinder Manfred von Ardenne
bekannten, dass sie durch die Urania-Experimente nachhaltig in ihrer
Entscheidung beeinflusst wurden, sich beruflich den
Naturwissenschaften zu widmen. Die Science-Museen in aller Welt
sowie das Deutsche Museum in München, nutzen auch heute noch das
mehr denn je Aktualität besitzende alte Urania-Prinzip der
experimentellen Selbstbetätigung der Besucher.
Den mit Abstand stärksten Andrang fanden jedoch die ,,dekorativ
ausgestatteten Vorträge" in dem 400 Plätze fassenden
Wissenschaftlichen Theater.
Diese von dem Urania-Direktor Max Wilhelm Meyer kreierte, auf
größtmögliche Anschaulichkeit abziehende völlig neuartige Form
der Volksbelehrung verfolgte den Zweck, ,,unabhängig von den Launen
des Wetters und den Bildungsgang des einzelnen ... die Wissenschaft
in möglichst leichtfasslicher und anregender Form, gewissermaßen
spielend" zu vermitteln.
Bereits im ersten Geschäftsjahr registrierte die Urania mehr als 98
000 Besucher, 6 Jahre später waren es schon über 178 000, und die
Urania konnte es sich deshalb 1895/96 leisten, ein zweites, mehr im
Stadtzentrum gelegenes Vereinsgebäude zu errichten. Bei einem
derartig sensationellen Dauererfolg konnte es nicht ausbleiben, dass
die neuartige Berliner Volksbildungseinrichtung zahlreiche
Nachahmung im In- und Ausland fand. So wurden Urania-Vereine in
Hamburg, Kassel, Jena, Chemnitz, Prag, Budapest, Graz und in Wien
gegründet.
Die erste Stadt allerdings, die das inspirierende Berliner Vorbild
aufgriff war Magdeburg.
Hier wurde die erste außerhalb Berlins gegründete Urania aus der
Taufe gehoben. Maßgebend dabei war eine Reihe von günstigen
Gründungsfaktoren und -bedingungen. So erwies sich die relative
Nähe zu Berlin als recht förderlich. Eine Reihe von Magdeburgern
hat bestimmt sehr bald die neuartige Volksakademie der Natur- und
Technikwissenschaften persönlich in Augenschein genommen. Bei ihrer
Rückkehr berichteten sie sicherlich begeistert über die nicht nur
angesehenen, sondern über die buchstäblich erlebten Attraktionen,
die nirgendwo sonst auf der Welt anzutreffen waren. In Magdeburg
entstand durch diese ,,Flüsterpropaganda" und durch
Pressemitteilungen allmählich der Wunsch, die Berliner Urania zu
Gastvorträgen einzuladen.
Als Veranstaltungsort wurde die größte Räumlichkeit der Stadt,
der große Saal der „Freundschaft", genutzt. Die
,,interessanten und klaren", mit ,,charakteristischen
Illustrationen" versehenen Urania-Vorträge fanden ,,reichen
Beifall". Nach 1893 war die Berliner Volksakademie nochmals am
23. und 24. Oktober 1894 mit den beiden Bildvorträgen ,,Eine
Amerikafahrt" und ,,Luftschifffahrt und freier Flug des
Menschen" zu Gast.
Daneben traten aber auch noch andere auswärtige Vortragsreisende in
Magdeburg auf So hielt z.B. der Wanderlehrer Kemper am 2. November
1894 einen ,,Vortrag über Astronomie", erläutert durch
Experimente mittels Drumond'schen Kaltlichts. Die sich häufenden
Gastvorträge bezeugen, dass in Magdeburg eine wachsende Nachfrage
nach allgemeinverständlichen Mitteilungen über
wissenschaftlich-technische Neuerungen zu verzeichnen war. Zwar
besaß die Stadt keine Universität oder Hochschule, aber das damals
weit verbreitete abschätzige Urteil, ,,Magdeburg fehle die geistige
Atmosphäre" und auf der Stadt laste in
wissenschaftlich-kultureller Hinsicht das ,,Odium eines abgelegenen
Ortes", entsprach in dieser Absolutheit keinesfalls der
historischen Realität.
So konnte Magdeburg in den 90er Jahren 24 höhere und mittlere
Bildungseinrichtungen vorweisen, darunter drei altehrwürdige
Gymnasien (,,Dom" - ,,Kloster Unserer Lieben Frauen" - und
,,König-Wilhelm"-Gymnasium), ein naturwissenschaftlich
orientiertes Realgymnasium, eine Oberrealschule mit Realgymnasium
(Guericke-Schule), ein Reform-Realgymnasium, eine Realschule sowie
fünf Gewerbeschulen (Kunstgewerbe- und Handwerkerschule, Baugewerk-,
Maschinenbau-, Gewerbliche Fortbildungs- sowie Kaufmännische
Fortbildungsschule). Insgesamt 784 wissenschaftliche Lehrkräfte,
davon 88 mit Universitätsabschluss, wirkten an diesen 24
Unterrichtsanstalten.
Daneben besaß Magdeburg noch eine große Stadtbibliothek mit rund
30 000 Bänden,
eine von der Magdeburgischen Zeitung, der ältesten deutschen
Zeitung, eingerichtete Wetterwarte, die gleichzeitig als
Dienststelle des öffentlichen Wetterdienstes fungierte,
die 1895 der Stadt übereignete, ,,wahrhaft fürstliche
Pflanzensammlung" des Fabrikbesitzers Hermann Gruson, welche
den Grundstock der alsbald danach errichteten Städtischen
Gruson-Gewächshäuser bildete, sowie ein am 1. November 1893
eröffnetes Städtisches Museum für Natur- und Heimatkunde. In ihm
befanden sich u.a. die bereits lange zuvor angelegten
naturwissenschaftlichen Sammlungen der Stadt und eine
prähistorische Sammlung
Äußerst regsam war auch das Vereinsleben in Magdeburg. So wurden
im Adressbuch für das Jahr 1894 sage und schreibe 370 (!) Vereine
für Handel, Gewerbe, Wissenschaft, Musik und geistige Unterhaltung
aufgeführt, davon 83 für Kunst und Wissenschaft.
Unter ihnen
besaßen vor allem der Verein für Erdkunde, die Freie
wissenschaftliche Vereinigung der Techniker, der Botanische, der
Wissenschaftliche und der Naturwissenschaftliche Verein eine
naturwissenschaftlich-technische Ausrichtung.
Für die Gründung der Urania war schließlich ebenfalls von
Bedeutung, dass sich die allgemeinen wirtschaftlichen,
infrastrukturellen und sozialdemographischen Rahmenbedingungen
besserten, wenngleich in einem höchst widersprüchlichen,
von Krisen belasteten Entwicklungsprozess. Magdeburg - seit langem schon
eines der bedeutendsten Verkehrs- und Handelszentren Mittel- und
Norddeutschlands - vollzog ab den 70er Jahren den Sprung zur
Industriegroßstadt Neben den traditionellen Kleinbetrieben in der
Handels-, Dienstleistungs-, Nahrungs- und Genussmittelbranche
prägten zunehmend die auf gebildete und entsprechend gut bezahlte
Fachkräfte angewiesenen Maschinenbau- und
Metallverarbeitungsbetriebe das wirtschaftliche Gesicht der Stadt.
Mit der zügigen Industrialisierung einher ging eine rapide Zunahme
der Bevölkerung. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts verdoppelte sie
sich nahezu auf rund 214 000 Einwohner im Jahre 1895!
Diese günstige demographische Entwicklung als auch die
vorgenannten, sich wechselseitig beeinflussenden
wirtschaftlich-technischen sowie wissenschaftlich-kulturellen
Standortbedingungen schufen in ihrer Gesamtheit eine Konstellation,
die die Gründung einer lebensfähigen Urania in den 90er Jahren in
Magdeburg möglich machten, wenn auch nicht zwangsläufig
determinierten.
Um auf der keimhaft angelegten potentiellen Chance einen realen
Verein entstehen zu lassen, dazu bedurfte es der Initiative und des
kollektiven Zusammenwirkens von begeisterten Anhängern und
einflussreichen Gönnern der Wissenschaftspopularisierung.
Diese, neben der sachlich-objektiven, unabdingbare komplementäre
subjektive Gründungskonstellation war in Magdeburg
glücklicherweise ebenfalls gegeben.
Der Blick auf die ersten Vorstandsmitglieder zeigt, welchen verdienstvollen
Persönlichkeiten die Stadt die Konstituierung des
Urania-Vereins zu danken hat.
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Die
Gründungsväter der Magdeburger Urania
Da ist zunächst Arthur Haese, Lehrer
an der Maschinenbauschule, zu nennen. Noch nicht einmal 29
Jahre alt, ragte er auf der Gründungsversammlung dadurch heraus,
dass es ihm oblag zu begründen ,,wie viel ein solcher Verein durch
Vorträge, verbunden mit einschlägigen Experimenten zur Hebung der
Volksbildung beitragen könne". Haese fühlte sich offenbar dem
öffentlichen Gemeinwohl besonders verpflichtet, denn 1897 ließ er
sich im Alter von erst 31 Jahren zum Stadtverordneten wählen. Der
Lehrer Conrad Schröder vermutlich tätig an der Kunstgewerbe- und
Handwerkerschule, und Wilhelm Grützmacher, Astronom der
Magdeburgischen Zeitung, waren -höchstwahrscheinlich - die anderen
beiden treibenden Kräfte im Gründungsprozess. Von ihrer Idee
besessen, fanden die drei Männer sehr bald entscheidende
Unterstützung bei einflussreichen Persönlichkeiten der Stadt.
Aus dem schulischen Bereich kam Hilfe von:
- Prof. Dr. Ludwig Blath, Oberlehrer am
Dom-Gymnasium und Vorsitzender des Naturwissenschaftlichen Vereins,
- Prof. Dr. Otto Isensee, Direktor der
Guericke-Schule und
- Prof. Dr. Emil Reidemeister, Oberlehrer an
derselben als Oberrealschule und Realgymnasium fungierenden
Unterrichtsanstalt.
Aus dem kommunalen Behörden-Bereich engagierten sich:
- der Stadtrat Johann Joseph Otto Duvigneau, Vorsitzender des
nationalliberalen Vereins und des Kunstgewerbe-Vereins,
- der
Stadtschulrat Emil Platen und
- der Oberbürgermeister Friedrich Bötticher, Vorstandsvorsitzender
des Magdeburger Kunst-Vereins und eine ,,anregende
Persönlichkeit", die ,,Alle Zeit ein opferwilliges Herz"
besaß, wenn es sich um ,,Einrichtungen der allgemeinen Wohlfahrt,
um Unterstützung wissenschaftlicher Bestrebungen handelte".
Aus dem privaten Wirtschaftsbereich schließlich gaben fördernde
Hilfe:
- der Millionär und Inhaber der 1786 gegründeten, international
bekannten Kakao-, Schokoladen- und Biskuitfirma Johann Gottlieb
Hauswaldt,
- Kommerzienrat Dr. Hans Hauswaldt. Hauswaldt war Besitzer
einer der größten numismatischen Privatsammlungen Deutschlands. Er
betrieb zudem naturwissenschaftlich-technische Studien, so u.a. auf
dem Gebiet der Röntgenstrahlen und der Molekularphysik. Bereits auf
der Gründungsversammlung stellte er der Urania ,,eine größere
Anzahl von Apparaten" zur Verfügung
- der Uhrmacher und Kaufmann der Fa. Boré & Berger, Willy Berger,
sowie
- der Rentier Hermann Schäfer.
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